1938 wandelte sich die Heil- und Pflegeanstalt Steinhof – das heutige Otto-Wagner-Spital – zur zentralen »Euthanasieanstalt« in Wien. Bis 1941 kamen mehr als 7.500 Patienten der Anstalt im Rahmen der »Aktion T4« durch systematische Tötung und später durch Mangelernährung und Vernachlässigung ums Leben. In der »Kinderfachabteilung« ermordeten Mediziner etwa 800 kranke oder behinderte Kinder.
Eine Ausstellung und eine Gedenkstätte eröffneten im Mai 2002 in einem Gebäude des Otto-Wagner-Spitals.
Geschichte
Die »Niederösterreichische Landes-Heil- und Pflegeanstalt für Geistes- und Nervenkranke ›Am Steinhof‹« entstand 1907 am Stadtrand von Wien. Nach dem »Anschluss« Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland 1938 wandelte sich die Einrichtung zu einer zentralen »Euthanasieanstalt«. In Zusammenarbeit mit dem Wiener Gesundheitsamt und den Erbgesundheitsgerichten entschieden Ärzte in Steinhof über »lebenswertes« und »lebensunwertes« Leben. Betroffen waren vor allem körperlich und geistig Behinderte, Angehörige sozialer Randgruppen und Unangepasste.
Im April 1940 führten Ärzte erstmals Zwangssterilisationen an Patienten durch. Systematische Tötungen von Insassen des Steinhofs folgten im Rahmen der so genannten »Aktion T4«. Die Aktion, die von Berlin aus zentral organisiert war, sah die Tötung geistig Behinderter vor. Ab Juli 1940 begannen Mitarbeiter von T4 mit dem Abtransport von etwa 3.200 Steinhof-Patienten. Die Mehrzahl der Patienten verbrachten sie in die Vernichtungsanstalt Schloss Hartheim bei Linz, wo die Menschen mit Kohlenmonoxid erstickt wurden.
Auch nach dem offiziellen Abbruch der Aktion starben weiterhin zahlreiche Patienten des Steinhofs. Sie kamen durch Mangelernährung und systematische Vernachlässigung in der Anstalt zu Tode.
Unter der Bezeichnung »Am Spiegelgrund« gab es auf dem Anstaltsgelände von 1940 bis 1945 außerdem eine Kinder-Euthanasieanstalt. In der so genannten »Kinderfachabteilung« töteten Ärzte und Schwestern rund 800 kranke oder behinderte Kinder und Jugendliche.
Opfergruppen
Mehr als 7.500 Patienten der Heil- und Pflegeanstalt Steinhof kamen zwischen 1940 und 1945 ums Leben. Etwa 3.200 von ihnen wurden in die Vernichtungsanstalt Schloss Hartheim bei Linz verschleppt und dort ermordet.
Rund 800 kranke oder behinderte Kinder und Jugendliche wurden in der so genannten »Kinderfachabteilung« der Anstalt ermordet.
Erfahre mehr über
Österreich
Am 12. März 1938 rückte die deutsche Wehrmacht unter dem Jubel zahlreicher Einwohner in die Republik Österreich ein. Am folgenden Tag wurde der »Anschluss« des Landes an das Deutsche Reich proklamiert, das fortan »Ostmark« hieß. Einheimische Nationalsozialisten begannen umgehend mit der Verfolgung der jüdischen Minderheit und von Regimegegnern. Ab Mai 1938 besaßen die deutschen antijüdischen Gesetze auch im eingegliederten Österreich Gültigkeit. Bis Ende 1939 gelang über 126.000 Juden, meist aus Wien, die Flucht. Bereits im Herbst 1939 begannen erste Deportationen österreichischer Juden in das besetzte Polen. Bis 1945 verschleppte die SS fast 48.600 Juden aus Österreich und 16.600 weitere, die in anderen Ländern Zuflucht gefunden hatten, in den besetzten Osten, wo sie fast ausnahmslos ermordet wurden. Über 40.000 nichtjüdische Zivilisten fanden den Tod, darunter über 8.000 aus dem Burgenland verschleppte Sinti und Roma.
1945 teilten die Alliierten das Land in vier Besatzungszonen auf. Die sowjetische Besatzungsmacht errichtete ein »Befreiungsdenkmal« in Wien. Die Vertreter der provisorischen Allparteienregierung Österreichs aus Sozialisten, Kommunisten und Volkspartei nutzten dessen Übergabe am 19. August 1945, um Österreich als »das erste freie Land, das der Hitlerischen Aggression zum Opfer gefallen ist«, zu bezeichnen. Diese Haltung fand für Jahrzehnte breiten Widerhall in Politik und Bevölkerung.
In den 1960er Jahren begannen allerdings heftige Auseinandersetzungen über die Beteiligung von Österreichern am Nationalsozialismus. Sie fanden bei einer Demonstration im März 1965 ihren Tiefpunkt, als ein rechtsextremer Student dem ehemaligen KZ-Häftling Ernst Kirchweger (*1898) tödliche Verletzungen zufügte. Kirchweger war das erste politische Todesopfer in Österreich nach 1945. In der Folgezeit wurden in der österreichischen Öffentlichkeit vermehrt Stimmen laut, die vor einer Verharmlosung der Jahre 1938 bis 1945 warnten. Mehrfach erschütterten Skandale um politisch Verantwortliche und deren Vergangenheit das Land, so während der »Waldheim-Debatte« zwischen 1986 und 1992. Der Vorwurf, der österreichische Bundespräsident und ehemalige UNO-Generalsekretär Kurt Waldheim (1918–2007) sei an Kriegsverbrechen auf dem Balkan beteiligt gewesen, spaltete das Land. Waldheim konterte, er habe »wie hunderttausend andere Österreicher« lediglich seine Pflicht getan. Erst Anfang der 1990er gestand der damalige Bundeskanzler Franz Vranitzky (*1937) eine österreichische Mitschuld am Holocaust ein.
Bereits 1963 nahm das Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands seine Arbeit auf, das die Geschichte des Holocaust und den Rechtsextremismus in Österreich untersucht sowie eine kleine Ausstellung zeigt. Die 1970 in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen eröffnete Dauerausstellung blieb für lange Zeit fast die einzige zur Geschichte des Nationalsozialismus in Österreich. 1983 beschloss der Wiener Gemeinderat, ein »Mahnmal gegen Krieg und Faschismus« zu errichten. Das durch den Bildhauer Alfred Hrdlicka (*1928) entworfene Erinnerungszeichen wurde 1991 eingeweiht, das »Mahnmal für die österreichischen jüdischen Opfer der Shoa« folgte 2000. Zeichen des staatlichen Umdenkens in Österreich sind Gesetze zur Entschädigung geraubten Eigentums, Entschädigungszahlungen an ehemalige Zwangsarbeiter sowie eine Historikerkommission, die zwischen 1998 und 2003 den Vermögensentzug während des Nationalsozialismus untersuchte. 2009 wurden ehemalige Deserteure der Wehrmacht juristisch rehabilitiert, 2014 ein Denkmal für sie eingeweiht.
Erinnerung
Die Ausstellung und Gedenkstätte im V-Gebäude des Otto-Wagner-Spitals eröffnete im Mai 2002. Im selben Jahr wurden auch die noch vorhandenen Überreste von Opfern der Anstalt in einem Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof bestattet. Bis in die 1980er Jahre hatten Ärzte sterbliche Überreste der Opfer für Forschungszwecke genutzt.
Ausgehend von den Geschehnissen auf dem Gelände des Steinhofs bietet die Ausstellung einen umfassenden Überblick über Hintergründe und Folgen der NS-Medizinverbrechen in Wien. Das Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes konzipierte die Ausstellung.
Angebote
Dauerausstellung »Der Krieg gegen die ›Minderwertigen‹: Zur Geschichte der NS-Medizin in Wien« im V-Gebäude des Otto-Wagner Spitals, Führungen und Zeitzeugengespräche, Workshops
Öffnungszeiten
Mittwoch bis Freitag 10.00 bis 17.00 Uhr, Samstag 14.00 bis 18.00