Erinnerung an die Opfer des Massakers von Pirčiupiai

Pirčiupių memorialinis ansamblis


In Pirčiupiai (früher Pirčiupis), einem Dorf in der Dzūkija-Region, erinnert eine 1960 eingerichtete Gedenkanlage an 119 Bewohner, die am 3. Juni 1944 von deutschen SS- und Polizeiangehörigen im Rahmen einer »Vergeltungsmaßnahme« zusammengetrieben und lebendig verbrannt wurden.

Geschichte

Pirčiupiai ist ein Dorf in der Dzūkija-Region, 45 Kilometer südwestlich der Hauptstadt Wilna (litauisch: Vilnius). Die umliegenden Wälder nutzten die litauischen Großfürsten seit dem 16. Jahrhundert als Jagdgrund.
Am frühen Morgen des 3. Juni 1944 überfielen prosowjetische Partisanen eine Autokolonne der deutschen Wehrmacht auf der Straße von Wilna nach Eišiškės in einem Wald etwa zwei Kilometer südlich von Pirčiupiai. Sie töteten fünf Soldaten, andere galten seitdem als vermisst. Um elf Uhr umzingelten das 16. SS-Polizeiregiment, örtliche Polizei und Wehrmachtsangehörige Pirčiupiai. Sie trieben die Einheimischen aus ihren Häusern und plünderten deren Lebensmittelvorräte. Einige Stunden später wurden 58 männliche und 61 weibliche Bewohner, darunter 49 im Kindesalter, in einer Scheune eingesperrt, die man – wie weitere leerstehende Wohnhäuser – in Brand setzte. Die Asche der Opfer durfte erst am 11. Juni 1944 in zwei Massengräbern auf einem abgesonderten Friedhof beigesetzt werden.

Opfergruppen

Am 3. Juni 1944 umzingelten das 16. SS-Polizeiregiment, örtliche Polizei und Wehrmachtsangehörige Pirčiupiai. Sie sperrten 58 männliche und 61 weibliche Bewohner, darunter 49 im Kindesalter, in eine Scheune und setzten diese in Brand.

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Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges erlangte Litauen 1918 seine Unabhängigkeit vom Russischen Reich. Im Juni 1940 wurde das Land gemäß einem deutsch-sowjetischen Vertrag – dem so genannten Hitler-Stalin-Pakt – von der Roten Armee besetzt. Viele katholische Litauer machten pauschal Juden für den Verlust der Eigenstaatlichkeit und den sowjetischen Terror verantwortlich. Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 überrollte die Wehrmacht das Land binnen kurzem. Bereits zwei Tage später führten deutsche Einheiten im grenznahen Garsden die erste Massenerschießung von Juden in diesem Feldzug durch. Litauische Nationalisten erschlugen in den ersten Kriegstagen hunderte Juden. Anschließend überfiel das deutsch-litauische »Rollkommando Hamann« Tag für Tag Ortschaften in Litauen und erschoss bis Ende 1941 beinahe sämtliche Juden auf dem Land und in Kleinstädten. Litauische SS-Einheiten und Polizeibataillone waren auch an Mordaktionen insbesondere auf belarussischem Gebiet beteiligt. Die Zahl der bis Sommer 1944 ermordeten litauischen Juden liegt zwischen 140.000 und 150.000 – fast 99 Prozent der jüdischen Bevölkerung des Landes in der Zwischenkriegszeit. Hinzu kommen etwa 70.000 jüdische Opfer aus dem Wilna-Gebiet, das nach der Zerschlagung PolensW im Herbst 1939 an Litauen zurückgegeben worden war. Der Terror richtete sich ab Sommer 1941 auch gegen meist kommunistische Kritiker und andere Minderheiten. Verschleppungen von Zwangsarbeitern in das Deutsche Reich setzten ein. Insgesamt etwa 170.000 nichtjüdische litauische Zivilisten fanden den Tod. Mit der Rückeroberung durch die Rote Armee 1944 wurde das Land erneut Teil der Sowjetunion. Tausende Litauer emigrierten, Tausende andere kämpften noch bis Ende der 1950er Jahre als Partisanen (»Waldbrüder«) gegen die sowjetische Besatzung. Insgesamt verschleppte der sowjetische Geheimdienst NKWD etwa 500.000 Litauer in das Innere der Sowjetunion. Das offizielle Litauen der Sowjetzeit gedachte vor allem der Helden des »Großen Vaterländischen Kriegs« und der prosowjetischen litauischen Patrioten, aber auch der ermordeten »friedliebenden Sowjetbürger und Kommunisten«. An einem der wichtigsten Orte des Massenmordes, dem IX. Fort in Kaunas, wurde 1958 ein Museum eingerichtet und 1984 ein monumentales Denkmalensemble aus Beton eröffnet. Seine Unabhängigkeit von Moskau erkämpfte sich das Land 1990/91 auch gegen russische Panzer mit 14 Toten. Anschließend wurden viele Monumente aus sowjetischer Zeit abgebaut, die jahrzehntelange Besatzung und der Widerstand rückten ins Zentrum der nationalen Erinnerung. Die Annexion Litauens durch die Sowjetunion 1940/41 und 1944 bis 1990 sowie die deutsche Besetzung wurden gleichgesetzt; wie in Lettland und Estland Okkupationsmuseen eingerichtet, deren inhaltlicher Schwerpunkt die Jahre des sowjetischen Terrors ist. Erst in den 1990er Jahren kam es zu einer breiten Diskussion über die litauische Beteiligung am Holocaust und 1998 zur Gründung einer Internationalen Kommission zur Bewertung der Verbrechen während des nationalsozialistischen und des sowjetischen Besatzungsregimes. Mittlerweile ist die litauische Erinnerungskultur immer vielfältiger. Eines der wichtigsten Institutionen ist das Jüdische Museum »Gaon von Wilna«. Am ehemaligen Massenerschießungsort Ponary (Paneriai) soll neben den Denkmälern auch ein Museumsbau entstehen. Bereits seit 2014 gibt es eine neue Dauerausstellung im Fort IX, während das Internetprojekt »Holocaust Atlas of Lithuania« detaillierte Informationen über die Orte der Massenerschießungen im ganzen Land anbietet.

Erinnerung

Bereits 1947 ließen Angehörige der Opfer und Bewohner der Nachbardörfer drei Holzkreuze auf dem Gedenkfriedhof aufstellen. Die Inschriften lauteten: »Ruhet in Frieden, Brüder und Väter. Ruhet in Frieden, Mütter und Schwestern«. 1956 begannen staatliche Ausgrabungsarbeiten in Pirčiupiai. Menschliche Überreste wurden auf dem Friedhof bestattet. Im Jahr darauf besuchte die politische Führung des sowjetischen Litauens, Antanas Sniečkus (1903–1974) und Justas Paleckis (1899–1980), das Dorf im Rahmen der ersten offiziellen Gedenkveranstaltung. Hierfür mussten die Kreuze Gedenksteinen aus Zement mit der Aufschrift: »An diesen Orten liegen die Überreste von Sowjetmenschen, die von den Hitler-Okkupanten und deren einheimischen Helfern lebendig verbrannt wurden« weichen. 1958 beschloss der Ministerrat eine Direktive zur Erinnerung an die Opfer von Pirčiupiai, das Zentralkomitee der Litauischen Kommunistischen Partei schrieb einen Wettbewerb für »ein Mahnmal für die Opfer des Faschismus« aus. Am 24. Juli 1960 wurden ein Museum und eine Gedenkanlage in einer großangelegten Veranstaltung unter dem Motto »Pirčiupiai darf sich nie wiederholen!« in Anwesenheit von 20.000 Gästen, auch aus dem Ausland, und hoher Politprominenz feierlich eingeweiht. Deren Zentrum bilden die 5,50 Meter hohe Granitstatue »Motina« [Mutter] des Bildhauers Gediminas Jokūbonis (1927–2006) und eine Granitwand mit den Namen der Opfer. Zudem wurde der Friedhof würdig gestaltet, spielte zu Sowjetzeiten aber keine zeremonielle Rolle.
Pirčiupiai war die erste Gedenkstätte auf dem Gebiet der damaligen Sowjetunion, die für ein verbranntes Dorf errichtet wurde. Nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit Litauens 1990/91 gingen die Besucherzahlen drastisch zurück, das Museum wurde im Jahr 2000 geschlossen. 1995 und 2005, den runden Jahrestagen des Kriegsendes, besuchten die jeweiligen Präsidenten Algirdas Brazauskas und Valdas Adamkus, die eine Teilnahme an der Militärparade in Moskau abgelehnt hatten, den Gedenkfriedhof.

Angebote

Die Gedenkanlage befindet sich direkt neben der Landstraße A4 und ist jederzeit zugänglich.

Kontakt

65446 Pirčiupiai