In der polnischen Kleinstadt Warta war einst die Mehrheit der Einwohner jüdisch. Fast alle wurden im Holocaust ermordet. Heute erinnert vor allem der jüdische Friedhof an ihre ausgelöschte Kultur.
Geschichte
Die Stadt Warta, am gleichnamigen Fluß etwa 50 km westlich von Lodz (polnisch: Łódź) in Zentralpolen gelegen, hatte ihre Blütezeit im Mittelalter. Vor dem Ersten Weltkrieg gehörte die Stadt zum Russischen Zarenreich. Warta blieb auch nach dem Ersten Weltkrieg wirtschaftlich unbedeutend. Etwas mehr als die Hälfte der knapp 5.000 Einwohner waren Juden, die meisten von ihnen lebten vom Handwerk.
Warta lag nah an der polnischen Westgrenze, so dass die Stadt bereits wenige Tage nach dem deutschen Angriff von der Wehrmacht eingenommen wurde. Große Teile der Stadt und auch die Synagoge wurden während der Kämpfe zerstört. Juden hatten unter der Besetzung von Anfang an besonders zu leiden: Bereits in den ersten Tagen schikanierten deutsche Soldaten Juden und schnitten ihnen die Schläfenlocken ab. Bekannte Fotos, die vermutlich in diesen Tagen entstanden, zeigen die Demütigung des Rabbiners Eliasz Laskowski und seines Sohnes Hersz.
Die Stadt wurde bald dem »Reichsgau Wartheland« zugeordnet und ins Deutsche Reich eingegliedert. Juden mussten Zwangsarbeit leisten, Abgaben zahlen und einen »Judenstern« zur Kennzeichnung tragen. Im Februar 1940 richteten die deutschen Behörden ein Ghetto in Warta ein, in das alle Juden umziehen mussten. Die Häuser dort waren so gut wie unbewohnbar.
Ab 1941 wurden viele Juden in Zwangsarbeitslager verschleppt. Im Ghetto durften nur noch wenige arbeiten, so dass sich die Lebensverhältnisse weiter verschlechterten.
Am 14. April 1942 wurden zehn jüdische Männer aus dem Ghetto bei den Ruinen der Synagoge öffentlich erhängt. Unter den Ermordeten waren auch Eliasz und Hersz Laskowski.
Am 24. und 25. Juli 1942 wurde das Ghetto endgültig aufgelöst. Etwa 400, für arbeitsfähig erachtete Juden wurden ins Ghetto Lodz überstellt. Alle anderen wurden zuerst in eine Kirche eingesperrt. Drei Tage später wurden sie ins nahegelegene Vernichtungslager Kulmhof (Polnisch: Chełmno) verschleppt und dort mit Motorabgasen ermordet.
Opfergruppen
Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten in Warta schätzungsweise etwa 2.000 Juden. Die meisten von ihnen starben aufgrund der miserablen Lebensbedingungen im Ghetto, kamen in Zwangsarbeitslagern um oder wurden im Vernichtungslager Kulmhof ermordet. Nur wenige Juden aus Warta überlebten den Holocaust.
Mit dem Angriff auf Polen und der Besetzung des Landes durch deutsche Truppen im Westen und durch die Rote Armee im Osten begann im September 1939 der Zweite Weltkrieg. Unmittelbar nach dem Einmarsch setzten in beiden Teilungsgebieten Verfolgung und Terror ein. Deutsche Verbände verübten Massaker an Angehörigen der geistigen Eliten, jüdischen und nichtjüdischen Zivilisten sowie Patienten.
Ab Ende 1939 errichtete die deutsche Verwaltung Ghettos, in denen die jüdische Bevölkerung unter elenden Bedingungen zusammengedrängt wurde. 1941, nach dem Angriff auf die Sowjetunion, geriet auch Ostpolen unter deutsche Herrschaft. SS-Einsatzgruppen ermordeten zunächst systematisch jüdische Männer, später auch Frauen und Kinder. Im Herbst 1941 begannen lokale deutsche Dienststellen im früheren Westpolen mit der Vorbereitung von Massentötungen jüdischer Ghettohäftlinge durch Giftgas. Bis 1945 wurden etwa drei Millionen polnische Juden in den Vernichtungsstätten Kulmhof, Belzec, Treblinka und Sobibor, in Majdanek und Auschwitz ermordet, verhungerten in den Ghettos oder wurden erschossen. 1943 erhoben sich die jüdischen Bewohner des Warschauer Ghettos zu einem Aufstand, den die SS blutig niederschlug.
Polnische Soldaten kämpften auf Seiten der Alliierten an allen Fronten des Weltkriegs. Partisanengruppen, darunter die patriotische »Armia Krajowa« (Heimatarmee), bildeten die größte Widerstandsbewegung im besetzten Europa. Am 1. August 1944 begann der Warschauer Aufstand, die umfangreichste Erhebung von Zivilisten gegen die Deutschen im besetzten Europa. Er scheiterte, auch weil die Rote Armee – bereits am anderen Weichselufer stehend – nicht eingriff. Die Zahl der Toten wird auf bis zu 250.000 geschätzt. Insgesamt kamen etwa drei Millionen nichtjüdische Polen unter deutscher Besatzung gewaltsam zu Tode.
Nachdem die Rote Armee bereits im Januar 1944 (ost-)polnischen Boden erreicht hatte, wurden die Truppen der Armia Krajowa vom sowjetischen Geheimdienst entwaffnet, ihre Offiziere erschossen oder verschleppt. Die Millionen Toten der Besatzungszeit, die dauerhafte Annexion Ostpolens durch die Sowjetunion, die Eingliederung ostdeutscher Gebiete und der daraus resultierende Bevölkerungsaustausch verursachten in Polen ein schweres politisches und gesellschaftliches Trauma.
In der Erinnerungskultur stand das Gedenken an die Ermordung der europäischen Juden in deutschen Vernichtungslagern auf polnischem Boden zunächst im Hintergrund. So galt Auschwitz – im Ausland längst zum Symbol des Holocaust geworden – über Jahrzehnte vor allem als »Ort polnischen Martyriums«. Veränderungen gibt es allerdings seit Beginn des 21. Jahrhunderts. Dazu mögen auch die heftigen Debatten um den ostpolnischen Ort Jedwabne beigetragen haben. Das Massaker an etwa 340 Juden am 10. Juli 1941, das bis dahin »Gestapo und Hitler-Polizei« zugeschrieben worden war, hatten polnische »Nachbarn« ohne deutschen Zwang verübt. Die Diskussionen im In- und Ausland um eine polnische Mittäterschaft führten 2001 dazu, dass sich Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski (*1954) bei den Opfern entschuldigte. Forderungen von Fachleuten, etwa aus dem Institut des Nationalen Gedenkens, sich den schwierigsten Kapiteln der Vergangenheit zu stellen, wurden lauter. Zu diesen zählen auch antijüdische Pogrome 1946/47 und der staatliche Antisemitismus im sozialistischen Nachkriegspolen.
Der polnische Staat investiert sehr viel in Erinnerungspolitik, auch in Großprojekte mit internationaler Ausstrahlung. Das Museum des Warschauer Aufstandes wurde bereits 2004 eröffnet. Das POLIN Museum der Geschichte der polnischen Juden eröffnete auf dem Gebiet des ehemaligen Warschauer Ghettos 2013, ein Museum des Warschauer Ghettos soll 2024 folgen. In Danzig gibt es seit 2017 das Museum des Zweiten Weltkrieges. Die ehemaligen deutschen Vernichtungslager Belzec und Sobibor wurden nach der Jahrtausendwende in moderne Gedenkstätten umgewandelt. Auch in der Kultur ist eine immer intensivere Beschäftigung mit dem jüdischen und multikulturellen Erbe Polens zu beobachten.
Erinnerung
Nach dem Krieg kehrten nur noch wenige Juden nach Warta zurück. Am 13. Dezember 1945 ermordeten einheimische Polen zwei Juden auf offener Straße, woraufhin am nächsten Tag alle Juden die Stadt verließen. Seitdem leben in Warta keine Juden mehr.
Jahrzehntelang kümmerte sich niemand um den Erhalt der noch vorhandenen Spuren einstigen jüdischen Lebens. Das Gelände des alten jüdischen Friedhofs, während der deutschen Besatzung vollkommen zerstört, wurde bebaut. In den 1980er Jahren begann ein einzelner Bürger, Ireneusz Ślipek (1935–2006) damit, den verlassenen neuen jüdischen Friedhof zu pflegen. Er brachte jüdische Grabsteine auf den Friedhof zurück und versuchte, zerbrochene Grabsteine wieder zusammenzusetzen. Insgesamt stellte er bis zu seinem Tod über 1.000 Grabsteine wieder auf. Heute kümmert sich ein Verein, der Ślipeks Namen trägt, um den Erhalt des Friedhofs. Dort befinden sich auch die Gräber der beiden Juden, die im Dezember 1945 ermordet wurden, aber auch ein Gedenkstein für die zehn im April 1942 erhängten jüdische Männer.
An der Außenmauer vom Postgebäude, das an der Stelle der einstigen Synagoge gebaut wurde, befindet sich eine Gedenktafel, die an die zehn 1942 dort erhängte jüdische Männer erinnert.
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