Erinnerung an die ermordeten Juden von Lypowez

Меморіали жертвам Голокосту у полі біля с. Вікентіївкa


In der ukrainischen Kleinstadt Lypowez erinnern mehrere Denkmäler an die dort ermordeten Juden.

Geschichte

Lypowez ist eine im Mittelalter gegründete Kleinstadt, am Fluss Sob 35 Kilometer östlich von Winnyzja gelegen. Nach den Teilungen Polens gehörte Lypowez zum Russischen Zarenreich. Ende des 19. Jahrhunderts waren fast die Hälfte der etwa 8.500 Einwohner der Stadt Juden.
1919 und 1920 gab es mindestens zweimal antijüdische Ausschreitungen in Lypowez. Danach führte die sowjetische Politik der Kollektivierung und der Unterdrückung der Religionen dazu, dass viele Juden in Großstädte zogen. Wurden 1926 wurden noch 3.605 Juden in Lypowez gezählt, was 42 Prozent der Gesamtbevölkerung von 8.638 entsprach, lebten 1941 wahrscheinlich nur noch etwa 1.200 Juden in der Stadt.
Die deutsche Wehrmacht besetzte Lypowez am 13. Juli 1941. Es gelang nur wenigen Juden, vor der Ankunft der deutschen Truppen zu fliehen. Die Deutschen ließen eine lokale ukrainische Polizeieinheit aufstellen, die ihnen unter anderem bei der Durchsetzung antijüdischer Maßnahmen zur Hand ging. Am 12. September erschossen deutsche Einheiten – vermutlich Angehörige des Einsatzkommando 6 der Einsatzgruppe C – mindestens 200 junge jüdische Männer und Frauen aus Lypowez in der Nähe des Dorfes Bereziwka.
Im Herbst 1941 wurde in Lypowez ein Ghetto eingerichtet, in das alle Juden umziehen mussten. Die Lebensbedingungen waren so katastrophal, dass viele Einwohner des Ghettos an Hunger, Krankheiten und Erschöpfung starben.
Im April oder Mai 1942 ermordeten deutsche Einheiten, unterstützt durch lokale Polizisten, fast alle Einwohner des Ghettos auf einem Feld in der Nähe des Dorfes Vikentiivka. Zuvor mussten Arbeiter eines landwirtschaftlichen Betriebs eine große Grube ausheben. Die Opfer mussten sich ausziehen und in die Grube legen, anschließend wurden sie mit Maschinenpistolen erschossen. Die Mordaktion zog sich tagelang hin. Danach blieben nur noch etwa 50 spezialisierte jüdische Arbeiter im Ghetto, die vermutlich im Herbst ermordet wurden. Später wurden immer wieder Juden von außerhalb in Lypowez erschossen.

Opfergruppen

Bei der ersten Mordaktion ermordeten Angehörige deutscher Einheiten mindestens 200 Juden, vor allem junge Männer und einige junge Frauen. Der großen Massenerschießung vom Frühjahr 1942 fielen etwa 750-800 jüdische Kinder, Frauen und Männer aus dem Ghetto zu Opfer. Später wurden immer wieder kleinere und größere Gruppen von Juden, insgesamt mehrere hundert Personen, nach Lypowez gebracht und dort ermordet.

Erfahre mehr über Ukraine

Die Ukraine, die zweitgrößte Republik der ehemaligen Sowjetunion, war einer der Hauptschauplätze des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust. Die Zahl der ukrainischen Todesopfer wird auf fünf bis sechs Millionen Menschen geschätzt, darunter Hunderttausende Juden. Mitte September 1939, nach der sowjetischen Besetzung Ostpolens entsprechend einem deutsch-sowjetischen Geheimabkommen – dem Hitler-Stalin-Pakt –, kamen die südöstlichen Regionen Polens zur Sowjetukraine. Repressionen gegen die einheimische Bevölkerung gehörten fortan zum Alltag. Im Sommer 1941 traf der deutsche Angriff auf die Sowjetunion zunächst genau diese Gebiete. Schon in den ersten Tagen wurde die jüdische Bevölkerung als angebliche Stütze der Sowjetmacht Ziel blutiger Übergriffe. Sie gingen häufig von national gesinnten Ukrainern aus, die den Vormarsch der Wehrmacht zunächst begrüßten. Bald darauf begannen deutsche SS-Einsatzgruppen und verbündete rumänische Einheiten mit Massenerschießungen von Juden. Die Schlucht von Babij Jar (ukrainisch Babyn Jar) nahe Kiew, wo deutsche Einheiten und ukrainische Miliz an zwei Tagen im September 1941 mehr als 33.700 Juden ermordeten, ist heute ein weltweites Symbol für den Völkermord an den Juden. Auch die nichtjüdische Bevölkerung geriet ins Visier der Verfolger. In der nationalsozialistischen Rassenideologie galten Ukrainer wie alle »Slawen« als »Untermenschen«. Die Besatzer plünderten das Land, verschleppten weit über eine Million Zivilisten zur Zwangsarbeit und verübten öffentliche Geiselmorde. Ab 1943 tobte nicht nur ein Partisanenkrieg gegen die Wehrmacht, sondern auch der Kampf der nationalistischen »Ukrajinska Powstanska Armija« (Ukrainische Aufstandsarmee = UPA) gegen die Sowjets und die polnische Bevölkerung der Westukraine. Weit über 100.000 Polen fanden hierbei den Tod. 1944 wurde die Ukraine wieder sowjetisch und umfasst seitdem auch ehemals ostpolnische Regionen. Die UPA setzte ihren Kampf bis Mitte der 1950er Jahre fort. Die sowjetischen Behörden verschleppten rund 300.000 Ukrainer nach Sibirien, um diesen Widerstand zu brechen. Die Gedenkkultur war an der sowjetischen Symbolsprache ausgerichtet. Es entstanden monumentale Gedenkanlagen zur Feier des »Sieges« im Großen Vaterländischen Krieg. Erst in jüngerer Zeit trat neben die Heldenverehrung auch das Opfergedenken. In der Westukraine hat sich zudem eine Erinnerungskultur an den Kampf der UPA entwickelt, der als Unabhängigkeitskampf interpretiert wird. Eine Aufarbeitung der Kollaboration mit den deutschen Besatzern und des Antisemitismus hat erst um 2000 begonnen. Die Massenerschießungen an Juden wurden, mit wenigen Ausnahmen, bis in die 1980er Jahre übergangen. Erst die Regierung der unabhängigen Ukraine erkannte 1991 Babyn Jar als »Symbol jüdischen Märtyrertums« an. Die Ukraine war auch lange nach der Erlangung der Unabhängigkeit auf der Suche nach ihrer eigenen Identität. Die Dokumentation der sowjetischen Verbrechen – wie die staatlich herbeigeführte Hungerkatastrophe 1932/33 mit Millionen Toten (Holodomor) – hat größere Bedeutung als die Aufklärung über den Holocaust. Dennoch entstanden überall im Land neue Gedenkorte in Erinnerung an die ermordeten Juden, wie etwa die Gedenkstätte Drobizkij Jar in Charkiw oder das Holocaustmuseum in Odessa. An zahlreichen Massengräbern entstanden neue Denkmäler, teils mit Unterstützung aus Deutschland. In Kiew sollte bei der ehemaligen Massenerschießungsstätte Babyn Jar eine große Holocaustgedenkstätte mit weltweiter Ausstrahlung entstehen. Diese Pläne wurden mit dem großangelegten russischen Angriff auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 auf Eis gelegt. Welche Auswirkungen der Verteidigungskrieg in Zukunft auf die Holocausterinnerung haben wird, bleibt abzuwarten.

Erinnerung

Die Rote Armee befreite Lypowez endgültig am 13. März 1944. Nur einzelnen Juden gelang es, bis dahin im Versteck zu überleben. Nach der Befreiung ermittelte eine sowjetische Untersuchungskommission vor Ort. Mehrere lokale Kollaborateure wurden verhaftet, die Verbrechen selbst wurden jedoch nur lückenhaft dokumentiert. In der Bundesrepublik wurde gegen einige Täter ermittelt, bei den Prozessen der 1960er und 1970er Jahre wurde jedoch kaum jemand wegen Verbrechen aus dem Winnyzja-Gebiet verurteilt.
In den ersten Nachkriegsjahren sorgte der Überlebende Leonti Usharenko dafür, dass bei den Massengräbern auf dem Feld beim Dorf Vikentiivka Denkmäler entstanden. Bei zwei Massengräbern wurden Erdhügel errichtet und Obelisken aufgestellt. Ihre Inschrift erinnerte an »sowjetische Bürger«, die dort Stelle ermordet worden seien. Wie in der Sowjetunion damals üblich, wurde die jüdische Identität der Opfer nicht erwähnt. In den 2010er Jahren wurden diese Obelisken durch die Initiative eines lokalen Unternehmers um Gedenktafel ergänzt, die mit Davidsternen auf die jüdische Herkunft der Opfer hinwiesen. Bemerkenswert ist, dass die Denkmäler die Jahrzehnte bis zum Ende der Sowjetunion unbeschadet überstanden haben, obwohl sie sich auf einem landwirtschaftlich genutzten Feld befanden. An vielen anderen Orten wurden solche Denkmäler eingeebnet.
2016 und 2017 führte ein Team im Rahmen des Projekts »Erinnerung bewahren«, das bei der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin angesiedelt ist, nicht-invasive archäologische Untersuchungen auf dem Feld durch. Dadurch konnte die genaue Lage der Massengräber festgestellt werden. 2019 wurden schließlich im Rahmen von »Erinnerung bewahren« die alten Denkmäler in Stand gesetzt, sowie durch neue Elemente und Informationsstelen ergänzt.

Kontakt

https://www.erinnerungbewahren.de/lypowez/

info@erinnerung-bewahren.de