Die litauische Kleinstadt Garsden (litauisch: Gargždai) war Schauplatz der ersten Massenerschießung von Juden nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941. Mehrere Gedenksteine erinnern an die Opfer.
Geschichte
Garsden (litauisch: Gargždai), ein kleiner Ort an der ehemaligen ostpreußisch-litauischen Grenze, liegt 17 Kilometer östlich der Hafenstadt Memel (litauisch: Klaipėda). Am 23. März 1939 kam das 1923 von Litauen besetzte Memelland nach einem deutschen Ultimatum wieder zur Provinz Ostpreußen. Viele Juden aus Memel flohen vor den Nationalsozialisten in das nahe gelegene litauische Garsden.
1940 wurde Litauen und somit auch Garsden gemäß einem deutsch-sowjetischen Geheimabkommen von der Sowjetunion annektiert. Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 ermordete die SS-Einsatzgruppe A systematisch Juden im ehemaligen Grenzstreifen zwischen dem Deutschen Reich und Sowjet-Litauen.
In Garsden gab es die erste Massenerschießung von Juden nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion überhaupt. Sie fand am 24. Juni 1941 statt, zwei Tage nach Beginn der Kampfhandlungen. Dieses Massaker wurde jedoch nicht von der SS-Einsatzgruppe A, sondern von Gestapoangehörigen und Polizisten des »Einsatzkommando Tilsit« verübt. Sie erschossen 200 Männer im wehrfähigen Alter sowie eine Frau in Garsden, unter den Opfern waren viele Memeler Juden. Als Vorwand diente der unerwartet starke Widerstand der im Ort stationierten NKWD-Grenzeinheiten am ersten Tag des Angriffs. Einige der überraschten NKWD-Angehörigen kämpften in Zivil, teilweise von Häusern am Westrand des Ortes heraus, die von Juden bewohnt waren. Dadurch konnte bei der Wehrmacht der Eindruck entstehen, die jüdische Zivilbevölkerung habe sich aktiv an den Kämpfen beteiligt.
Es ist anzunehmen, dass die Mordaktion auf Ersuchen der Wehrmacht zurückzuführen ist. Der Führer des Kommandos, der Leiter der Tilsiter Gestapostelle Hans-Joachim Böhme, ließ die Erschießung wiederum nach direkter Rücksprache mit dem Reichsicherheitshauptamt durchführen.
Mitte September 1941 brachten die Deutschen die verbliebenen jüdischen Frauen und Kinder von Garsden in einen Wald bei Vėžaičiai, wo litauische Nationalisten sie ermordeten.
Opfergruppen
Insgesamt 500 Juden aus Garsden ermordeten Angehörige des »Einsatzkommandos Tilsit« beziehungsweise litauische Nationalisten bei verschiedenen Mordaktionen im Juni und September 1941.
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Litauen
Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges erlangte Litauen 1918 seine Unabhängigkeit vom Russischen Reich. Im Juni 1940 wurde das Land gemäß einem deutsch-sowjetischen Vertrag – dem so genannten Hitler-Stalin-Pakt – von der Roten Armee besetzt. Viele katholische Litauer machten pauschal Juden für den Verlust der Eigenstaatlichkeit und den sowjetischen Terror verantwortlich. Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 überrollte die Wehrmacht das Land binnen kurzem. Bereits zwei Tage später führten deutsche Einheiten im grenznahen Garsden die erste Massenerschießung von Juden in diesem Feldzug durch. Litauische Nationalisten erschlugen in den ersten Kriegstagen hunderte Juden. Anschließend überfiel das deutsch-litauische »Rollkommando Hamann« Tag für Tag Ortschaften in Litauen und erschoss bis Ende 1941 beinahe sämtliche Juden auf dem Land und in Kleinstädten. Litauische SS-Einheiten und Polizeibataillone waren auch an Mordaktionen insbesondere auf belarussischem Gebiet beteiligt. Die Zahl der bis Sommer 1944 ermordeten litauischen Juden liegt zwischen 140.000 und 150.000 – fast 99 Prozent der jüdischen Bevölkerung des Landes in der Zwischenkriegszeit. Hinzu kommen etwa 70.000 jüdische Opfer aus dem Wilna-Gebiet, das nach der Zerschlagung PolensW im Herbst 1939 an Litauen zurückgegeben worden war.
Der Terror richtete sich ab Sommer 1941 auch gegen meist kommunistische Kritiker und andere Minderheiten. Verschleppungen von Zwangsarbeitern in das Deutsche Reich setzten ein. Insgesamt etwa 170.000 nichtjüdische litauische Zivilisten fanden den Tod. Mit der Rückeroberung durch die Rote Armee 1944 wurde das Land erneut Teil der Sowjetunion. Tausende Litauer emigrierten, Tausende andere kämpften noch bis Ende der 1950er Jahre als Partisanen (»Waldbrüder«) gegen die sowjetische Besatzung. Insgesamt verschleppte der sowjetische Geheimdienst NKWD etwa 500.000 Litauer in das Innere der Sowjetunion. Das offizielle Litauen der Sowjetzeit gedachte vor allem der Helden des »Großen Vaterländischen Kriegs« und der prosowjetischen litauischen Patrioten, aber auch der ermordeten »friedliebenden Sowjetbürger und Kommunisten«. An einem der wichtigsten Orte des Massenmordes, dem IX. Fort in Kaunas, wurde 1958 ein Museum eingerichtet und 1984 ein monumentales Denkmalensemble aus Beton eröffnet.
Seine Unabhängigkeit von Moskau erkämpfte sich das Land 1990/91 auch gegen russische Panzer mit 14 Toten. Anschließend wurden viele Monumente aus sowjetischer Zeit abgebaut, die jahrzehntelange Besatzung und der Widerstand rückten ins Zentrum der nationalen Erinnerung. Die Annexion Litauens durch die Sowjetunion 1940/41 und 1944 bis 1990 sowie die deutsche Besetzung wurden gleichgesetzt; wie in Lettland und Estland Okkupationsmuseen eingerichtet, deren inhaltlicher Schwerpunkt die Jahre des sowjetischen Terrors ist. Erst in den 1990er Jahren kam es zu einer breiten Diskussion über die litauische Beteiligung am Holocaust und 1998 zur Gründung einer Internationalen Kommission zur Bewertung der Verbrechen während des nationalsozialistischen und des sowjetischen Besatzungsregimes.
Mittlerweile ist die litauische Erinnerungskultur immer vielfältiger. Eines der wichtigsten Institutionen ist das Jüdische Museum »Gaon von Wilna«. Am ehemaligen Massenerschießungsort Ponary (Paneriai) soll neben den Denkmälern auch ein Museumsbau entstehen. Bereits seit 2014 gibt es eine neue Dauerausstellung im Fort IX, während das Internetprojekt »Holocaust Atlas of Lithuania« detaillierte Informationen über die Orte der Massenerschießungen im ganzen Land anbietet.
Erinnerung
In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Gedenksteine am Ort der Massenerschießung vom 24. Juni 1941 errichtet und mehrfach ausgetauscht. Seit 1989 erinnert ein Gedenkstein aus Granit an die dort ermordeten 201 Juden. Auf der Tafel wird als Zeitpunkt der Tat fälschlicherweise »Juli 1941« angegeben. Am Fuße des Gedenksteins ist auf litauisch der Satz »Hier ist eine unverheilte Wunde im litauischen Boden« eingemeißelt.
In der Umgebung des Dorfes Vėžaičiai stehen bei den Massengräbern mehrere Gedenksteine, die an die etwa 300 im Wald ermordeten jüdischen Kinder und Frauen erinnern.