Das SS-Lager im ostpreußischen Städtchen Soldau (polnisch: Działdowo) diente 1939/40 als Haftanstalt während der nationalsozialistischen Verfolgung der polnischen Oberschichten und 1940 als Mordstätte im Rahmen der Patientenmorde (»Euthanasie«). An die 13.000 bis 20.000 Opfer erinnern mehrere Gedenkzeichen am Ort und in Wäldern der Umgebung.
Geschichte
Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs richtete die SS in den ehemaligen Kasernen von Soldau im Herbst 1939 zunächst ein Durchgangslager für verhaftete Polen und Juden ein. Im November 1939 kam Dr. Dr. Emil Otto Rasch als Inspekteur der Sicherheitspolizei und des SD nach Königsberg. Ab Januar 1940 oblag ihm im Rahmen der deutschen »Intelligenzaktion« gegen die polnische Oberschicht die Verbringung von Häftlingen nach Soldau. Zwischen Januar und April des Jahres ließ Rasch in Soldau mindestens 1.500 Polen und Juden – vor allem Akademiker, Offiziere und Priester – nach Standgerichtsurteilen ermorden. Einzelerschießungen fanden direkt auf dem Kasernengelände statt, Massenexekutionen in den umliegenden Wäldern bei Bialutten (Białuty) und Kämmersdorf (Komorniki). Im März 1940 wurden – neben Hunderten anderen – auch der 82-jährige Erzbischof Antoni Julian Nowowiejski und Weihbischof Leon Wetmański von Płock verhaftet und dorthin überstellt. Beide kamen Anfang 1941 um.
Bereits ab Anfang 1940 mordete ein Sonderkommando unter Führung des SS-Hauptsturmführers Herbert Lange Krankenhäuser im eroberten Polen leer. Ende Mai räumte die SS die ostpreußischen Provinzialanstalten unter anderem in Allenberg bei Wehlau, in Tapiau, Kortau und Carlshof bei Rastenburg und verschleppte die Patienten in andere Einrichtungen und nach Soldau. Bis zum 8. Juni 1940 ermordete das »Sonderkommando Lange« 1.558 deutsche und bis zu 300 polnische Behinderte dort in Gaswagen.
Im Mai 1940 erfolgte die Umwandlung des SS-Lagers in ein Arbeitserziehungslager, das alle ostpreußischen Staatspolizeidienststellen bis Januar 1945 nutzten. Im Frühjahr 1944 erhielt das SS-Sonderkommando 1005 den Befehl, in einer »Enterdungsaktion« die Spuren des Massenmordes 1940/41 bei Soldau zu beseitigen. Vor dem Einmarsch der Roten Armee schickte die SS am 17. Januar 1945 die letzten Häftlinge auf einen Todesmarsch. Gleich nach der Eroberung betrieb der sowjetische Geheimdienst NKWD Soldau als Lager für polnische Kriegsgefangene und Volksdeutsche weiter.
Opfergruppen
Insgesamt durchliefen von Herbst 1939 bis Januar 1945 zwischen 20.000 und 50.000, möglicherweise sogar 200.000 Menschen das Lager Soldau. Die Zahl der Opfer – Angehörige der polnischen Oberschicht, Juden sowie Patienten aus Heil- und Pflegeanstalten – wird auf 13.000 bis 20.000 geschätzt.
Mit dem Angriff auf Polen und der Besetzung des Landes durch deutsche Truppen im Westen und durch die Rote Armee im Osten begann im September 1939 der Zweite Weltkrieg. Unmittelbar nach dem Einmarsch setzten in beiden Teilungsgebieten Verfolgung und Terror ein. Deutsche Verbände verübten Massaker an Angehörigen der geistigen Eliten, jüdischen und nichtjüdischen Zivilisten sowie Patienten.
Ab Ende 1939 errichtete die deutsche Verwaltung Ghettos, in denen die jüdische Bevölkerung unter elenden Bedingungen zusammengedrängt wurde. 1941, nach dem Angriff auf die Sowjetunion, geriet auch Ostpolen unter deutsche Herrschaft. SS-Einsatzgruppen ermordeten zunächst systematisch jüdische Männer, später auch Frauen und Kinder. Im Herbst 1941 begannen lokale deutsche Dienststellen im früheren Westpolen mit der Vorbereitung von Massentötungen jüdischer Ghettohäftlinge durch Giftgas. Bis 1945 wurden etwa drei Millionen polnische Juden in den Vernichtungsstätten Kulmhof, Belzec, Treblinka und Sobibor, in Majdanek und Auschwitz ermordet, verhungerten in den Ghettos oder wurden erschossen. 1943 erhoben sich die jüdischen Bewohner des Warschauer Ghettos zu einem Aufstand, den die SS blutig niederschlug.
Polnische Soldaten kämpften auf Seiten der Alliierten an allen Fronten des Weltkriegs. Partisanengruppen, darunter die patriotische »Armia Krajowa« (Heimatarmee), bildeten die größte Widerstandsbewegung im besetzten Europa. Am 1. August 1944 begann der Warschauer Aufstand, die umfangreichste Erhebung von Zivilisten gegen die Deutschen im besetzten Europa. Er scheiterte, auch weil die Rote Armee – bereits am anderen Weichselufer stehend – nicht eingriff. Die Zahl der Toten wird auf bis zu 250.000 geschätzt. Insgesamt kamen etwa drei Millionen nichtjüdische Polen unter deutscher Besatzung gewaltsam zu Tode.
Nachdem die Rote Armee bereits im Januar 1944 (ost-)polnischen Boden erreicht hatte, wurden die Truppen der Armia Krajowa vom sowjetischen Geheimdienst entwaffnet, ihre Offiziere erschossen oder verschleppt. Die Millionen Toten der Besatzungszeit, die dauerhafte Annexion Ostpolens durch die Sowjetunion, die Eingliederung ostdeutscher Gebiete und der daraus resultierende Bevölkerungsaustausch verursachten in Polen ein schweres politisches und gesellschaftliches Trauma.
In der Erinnerungskultur stand das Gedenken an die Ermordung der europäischen Juden in deutschen Vernichtungslagern auf polnischem Boden zunächst im Hintergrund. So galt Auschwitz – im Ausland längst zum Symbol des Holocaust geworden – über Jahrzehnte vor allem als »Ort polnischen Martyriums«. Veränderungen gibt es allerdings seit Beginn des 21. Jahrhunderts. Dazu mögen auch die heftigen Debatten um den ostpolnischen Ort Jedwabne beigetragen haben. Das Massaker an etwa 340 Juden am 10. Juli 1941, das bis dahin »Gestapo und Hitler-Polizei« zugeschrieben worden war, hatten polnische »Nachbarn« ohne deutschen Zwang verübt. Die Diskussionen im In- und Ausland um eine polnische Mittäterschaft führten 2001 dazu, dass sich Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski (*1954) bei den Opfern entschuldigte. Forderungen von Fachleuten, etwa aus dem Institut des Nationalen Gedenkens, sich den schwierigsten Kapiteln der Vergangenheit zu stellen, wurden lauter. Zu diesen zählen auch antijüdische Pogrome 1946/47 und der staatliche Antisemitismus im sozialistischen Nachkriegspolen.
Der polnische Staat investiert sehr viel in Erinnerungspolitik, auch in Großprojekte mit internationaler Ausstrahlung. Das Museum des Warschauer Aufstandes wurde bereits 2004 eröffnet. Das POLIN Museum der Geschichte der polnischen Juden eröffnete auf dem Gebiet des ehemaligen Warschauer Ghettos 2013, ein Museum des Warschauer Ghettos soll 2024 folgen. In Danzig gibt es seit 2017 das Museum des Zweiten Weltkrieges. Die ehemaligen deutschen Vernichtungslager Belzec und Sobibor wurden nach der Jahrtausendwende in moderne Gedenkstätten umgewandelt. Auch in der Kultur ist eine immer intensivere Beschäftigung mit dem jüdischen und multikulturellen Erbe Polens zu beobachten.
Erinnerung
Nach 1945 kam Soldau – wie das gesamte südliche Ostpreußen – zu Polen, die deutschen Einwohner wurden verfolgt und verjagt, Vertriebene aus dem sowjetisch annektierten Ostpolen angesiedelt. Diese Neusiedler entdeckten Massengräber von getöteten Häftlingen aus den Jahren 1939 bis 1944/45 in den Wäldern bei Bialutten (Białuty), südöstlich von Soldau, und Kämmersdorf (Komorniki), nordöstlich der Stadt. Dort erinnern jeweils Gedenkanlagen an die Tausenden Ermordeten. Auch auf dem Soldauer Kirchenfriedhof, wo in elf Gräbern exhumierte Leichen bestattet wurden, gibt es einen Gedenkstein.
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