Im südwestlitauischen Städtchen Wysztyten (litauisch: Vyštytis, polnisch: Wysztyniec) erinnert ein Stein in einer kleinen Gedenkanlage an die ausgelöschte jüdische Gemeinde, an die etwa 220 jüdischen Kinder, Frauen und Männer sowie andere Zivilisten, die im Sommer 1941 von litauischen Freischärlern erschossen wurden.
Geschichte
Wysztyten war ein kleines jüdisch-litauisches Schtetl direkt an der Grenze zur deutschen Provinz Ostpreußen. Juden siedelten hier seit der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. 1795 kam Litauen zum Russischen Reich, die Gegend um Wysztyten zwanzig Jahre später. Diese Landschaft – die Suwalkija – war Teil des sogenannten Ansiedlungsrayons, auf den zwischen Ende des 18. und Anfang des 20. Jahrhunderts das Wohn- und Arbeitsrecht der jüdischen Bevölkerung im russischen Westen beschränkt war. Viele Wysztyter Juden wanderten nach Preußen, später auch nach Palästina, Südafrika und Amerika aus, andere zogen aus dem Innern Russlands dorthin. Vor dem Ersten Weltkrieg waren etwa 600 der knapp 2.600 Einwohner des Ortes Juden. Nach 1918 gehörte er zur unabhängigen Republik Litauen, die 1940 von der Sowjetunion besetzt wurde. Ende Juni 1941 eroberte die deutsche Wehrmacht dieses Gebiet. Zu dieser Zeit lebten in Wysztyten etwa 1.000 Einwohner. In zwei »Aktionen« erschossen litauische SS-Freiwillige am 14. Juli und am 9. August 1941 über 220 Juden sowie andere Zivilisten und löschten so die jüdische Gemeinde aus. Um Munition zu sparen, sollen die Kinder getötet worden sein, indem ihre Schädel gegen Bäume geschlagen wurden.
Opfergruppen
Litauische SS-Freiwillige erschossen am 14. Juli und am 9. August 1941 222 jüdische Kinder, Frauen und Männer, sowjetische Aktivisten und Komsomolzen aus Wysztyten und umliegenden Dörfern am Ort.
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Litauen
Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges erlangte Litauen 1918 seine Unabhängigkeit vom Russischen Reich. Im Juni 1940 wurde das Land gemäß einem deutsch-sowjetischen Vertrag – dem so genannten Hitler-Stalin-Pakt – von der Roten Armee besetzt. Viele katholische Litauer machten pauschal Juden für den Verlust der Eigenstaatlichkeit und den sowjetischen Terror verantwortlich. Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 überrollte die Wehrmacht das Land binnen kurzem. Bereits zwei Tage später führten deutsche Einheiten im grenznahen Garsden die erste Massenerschießung von Juden in diesem Feldzug durch. Litauische Nationalisten erschlugen in den ersten Kriegstagen hunderte Juden. Anschließend überfiel das deutsch-litauische »Rollkommando Hamann« Tag für Tag Ortschaften in Litauen und erschoss bis Ende 1941 beinahe sämtliche Juden auf dem Land und in Kleinstädten. Litauische SS-Einheiten und Polizeibataillone waren auch an Mordaktionen insbesondere auf belarussischem Gebiet beteiligt. Die Zahl der bis Sommer 1944 ermordeten litauischen Juden liegt zwischen 140.000 und 150.000 – fast 99 Prozent der jüdischen Bevölkerung des Landes in der Zwischenkriegszeit. Hinzu kommen etwa 70.000 jüdische Opfer aus dem Wilna-Gebiet, das nach der Zerschlagung PolensW im Herbst 1939 an Litauen zurückgegeben worden war.
Der Terror richtete sich ab Sommer 1941 auch gegen meist kommunistische Kritiker und andere Minderheiten. Verschleppungen von Zwangsarbeitern in das Deutsche Reich setzten ein. Insgesamt etwa 170.000 nichtjüdische litauische Zivilisten fanden den Tod. Mit der Rückeroberung durch die Rote Armee 1944 wurde das Land erneut Teil der Sowjetunion. Tausende Litauer emigrierten, Tausende andere kämpften noch bis Ende der 1950er Jahre als Partisanen (»Waldbrüder«) gegen die sowjetische Besatzung. Insgesamt verschleppte der sowjetische Geheimdienst NKWD etwa 500.000 Litauer in das Innere der Sowjetunion. Das offizielle Litauen der Sowjetzeit gedachte vor allem der Helden des »Großen Vaterländischen Kriegs« und der prosowjetischen litauischen Patrioten, aber auch der ermordeten »friedliebenden Sowjetbürger und Kommunisten«. An einem der wichtigsten Orte des Massenmordes, dem IX. Fort in Kaunas, wurde 1958 ein Museum eingerichtet und 1984 ein monumentales Denkmalensemble aus Beton eröffnet.
Seine Unabhängigkeit von Moskau erkämpfte sich das Land 1990/91 auch gegen russische Panzer mit 14 Toten. Anschließend wurden viele Monumente aus sowjetischer Zeit abgebaut, die jahrzehntelange Besatzung und der Widerstand rückten ins Zentrum der nationalen Erinnerung. Die Annexion Litauens durch die Sowjetunion 1940/41 und 1944 bis 1990 sowie die deutsche Besetzung wurden gleichgesetzt; wie in Lettland und Estland Okkupationsmuseen eingerichtet, deren inhaltlicher Schwerpunkt die Jahre des sowjetischen Terrors ist. Erst in den 1990er Jahren kam es zu einer breiten Diskussion über die litauische Beteiligung am Holocaust und 1998 zur Gründung einer Internationalen Kommission zur Bewertung der Verbrechen während des nationalsozialistischen und des sowjetischen Besatzungsregimes.
Mittlerweile ist die litauische Erinnerungskultur immer vielfältiger. Eines der wichtigsten Institutionen ist das Jüdische Museum »Gaon von Wilna«. Am ehemaligen Massenerschießungsort Ponary (Paneriai) soll neben den Denkmälern auch ein Museumsbau entstehen. Bereits seit 2014 gibt es eine neue Dauerausstellung im Fort IX, während das Internetprojekt »Holocaust Atlas of Lithuania« detaillierte Informationen über die Orte der Massenerschießungen im ganzen Land anbietet.
Erinnerung
Nach 1944 wurde Litauen erneut zwangsweise Teil der Sowjetunion. Bereits 1947 wurde am Ort der Erschießung vom 14. Juli 1941, als etwa 70 Juden und andere Zivilisten aus Wysztyten und umliegenden Dörfern erschossen wurden, ein Stein errichtet. Mitte der 1960er Jahre ließen die Behörden die Gebeine von etwa 150 jüdischen Frauen und Kindern, die am 9. August 1941 600 Meter weiter ermordet worden waren, in dieses Massengrab umbetten. Dass die Opfer mehrheitlich Juden waren, fand keine Erwähnung. Erst nach 1990/91 wurde folgende Inschrift auf einem Grabstein ergänzt: »An diesem Platz liegen die Überreste jüdischer Kinder, Frauen und Männer aus Wysztyten, die von Nazihenkern und ihren lokalen Helfern am 9. Juli 1941 brutal ermordet wurden. Die Überreste der Kinder und Frauen wurden 1965 hierher überführt.«
Heute liegt Wysztyten unmittelbar am Grenzzaun zum Königsberger Gebiet der Russischen Föderation. Jüdisches Leben entwickelte sich in Wysztyten, wie fast überall im Land, nicht wieder. Lediglich die als Schuppen genutzte Ruine der Synagoge und der Jüdische Friedhof zeugen von dieser vernichteten Welt. Vor der Ruine der Synagoge steht inzwischen ein kleiner Gedenkstein und eine Informationstafel.